Jugendliche zwischen Orientierungssuche und Radikalisierung

Radikalisierung unter Kindern und Jugendlichen ist oft schwer zu fassen. Ein plötzlicher Rückzug, neue Freundschaften, aggressive Parolen oder kryptische Symbole im Chat – vieles davon ist nicht immer leicht einzuordnen. Gleichzeitig bewegen sich junge Menschen heute in digitalen Räumen, in denen extremistische Inhalte nur einen Klick entfernt sind. Dort treffen sie auf Angebote, die einfache Antworten versprechen, Zugehörigkeit vermitteln – und zugleich demokratische Werte infrage stellen. Für Fachkräfte entsteht daraus eine große Herausforderung: Wie lassen sich frühe Anzeichen erkennen? Wie begegnet man Jugendlichen, ohne sie zu stigmatisieren oder ihr Vertrauen zu verlieren? Und wie kann man unterstützen, bevor sich destruktive Denkmuster verfestigen?
Die Handreichung möchte zu diesen Fragen eine Orientierung geben.

Was bedeutet Radikalisierung?

Unter Radikalisierung versteht man einen Prozess, in dem Personen zunehmend extreme Haltungen oder Verhaltensweisen entwickeln, die demokratische Grundwerte, gesellschaftliche Normen oder bestehende Machtverhältnisse ablehnen oder aktiv bekämpfen. Dieser Prozess verläuft selten gradlinig und entsteht meist aus einer Kombination sozialer, psychischer und ideologischer Faktoren.
Zudem weist Radikalisierung unterschiedliche Formen und Ausprägungen auf. Sie kann politisch oder religiös motiviert sein, verschwörungsideologische oder staatsfeindliche Tendenzen aufweisen oder Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beinhalten.

Woran erkenne ich eine Radikalisierung?

Radikalisierung verläuft selten abrupt oder eindeutig. Meist handelt es sich um einen allmählich fortschreitenden Prozess, der in unterschiedlichen Bereichen sichtbar wird: Im Verhalten, in der Kommunikation, in der emotionalen Verfassung oder im sozialen Umfeld. Für Fachkräfte ist es deshalb wichtig, einzelne Signale nicht überzubewerten, sondern diese im Gesamtbild zu betrachtet. Relevant wird es, wenn sich mehrere Veränderungen über einen gewissen Zeitraum zeigen oder wenn Jugendliche sich zunehmend von demokratischen Grundwerten entfernen.

  • Verhaltensveränderungen: Sich radikalisierende Jugendliche ziehen sich nicht selten zurück, brechen Kontakte ab oder wirken zunehmend isoliert. Häufig treten neue, dominante Peergroups auf, die starken Einfluss gewinnen. Ein provokatives Auftreten, klare Feindbilder oder die Übernahme extremistischer Begriffe und Symbole können ebenfalls ein Anzeichen dafür sein, dass sich ein junger Mensch extremen Ideologien zuwendet.
  • Kommunikation und Online-Aktivitäten: Die Nutzung extremistischer Codes oder Memes, das Teilen von verschwörungsideologischen Inhalten oder die offene Zustimmung zu Gewalt und Hassrede sind ernstzunehmende Zeichen, auch wenn sie manchmal nur aus jugendlicher Provokation heraus entstehen. Gerade im digitalen Raum vollziehen sich allerdings oft unbemerkt auch erste Schritte der Radikalisierung. Wenn auf Hassparolen zudem keine Gegenrede folgt, können sich entsprechende Ansichten verfestigen. Deshalb lohnt es sich hier, aufmerksam zu bleiben.
  • Emotionen und psychologische Aspekte: Gefühle wie Wut, Ohnmacht und Enttäuschung, aber auch persönliche Krisen wie Mobbing, Trennungserfahrungen und Perspektivlosigkeit können Jugendliche empfänglich für radikale Gruppen machen, die einfache Erklärungen und klare Zugehörigkeit versprechen. Auch Identitätskrisen, ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit, Diskriminierungs- oder Gewalterfahrungen sowie familiäre Konflikte können Risikofaktoren darstellen.

Handlungsempfehlungen für Fachkräfte

Wenn Jugendliche erste Anzeichen einer Radikalisierung zeigen, stehen Fachkräfte oft vor der Herausforderung, angemessen zu reagieren, ohne die Beziehung zu belasten oder den Kontakt zu verlieren. Dabei ist es entscheidend, sowohl Haltung als auch pädagogisches Fingerspitzengefühl zu zeigen. Die folgenden Empfehlungen sollen Orientierung geben.

1. Beziehungsarbeit

Eine vertrauensvolle, offene und wertschätzende Beziehung ist die wichtigste Grundlage. Gehen Sie urteilsfrei auf Jugendliche zu – auch dann, wenn diese provokative oder irritierende Positionen äußern. Moralische Verurteilungen wirken häufig abschreckend und treiben Jugendliche weiter in extremistische Räume, in denen sie vermeintliche Akzeptanz erfahren.

2. Gespräche führen

Führen Sie Gespräche mit den Jugendlichen, in denen deren Gefühle, Bedürfnisse und die Hintergründe der jugendlichen Position im Vordergrund stehen. Vermeiden Sie ideologische Diskussionen, mit denen Sie inhaltliche Aspekte widerlegen wollen. Offene Fragen helfen, Einblicke in die Situation der Jugendlichen zu bekommen, etwa:
„Wie bist du auf diese Inhalte gestoßen?“
„Was bedeutet das für dich?“
„Was gibt dir das Gefühl, dass …?“
Legen Sie den Fokus darauf, Beweggründe besser zu verstehen, ohne die Jugendlichen abzuwerten oder in die Defensive zu drängen.

3. Grenzen setzen

Trotz einer wertschätzenden Haltung braucht es eindeutige Grenzen. Weisen Sie Gewalt, Hass und menschenfeindliche Äußerungen klar zurück. Kommunizieren Sie Regeln und Konsequenzen transparent und setzten Sie diese konsequent um. Eine klare Haltung gibt Orientierung, gerade für Jugendliche, die sich in unsicheren oder belastenden Lebenslagen befinden.

4. Dokumentation und Teamarbeit

Bleiben Sie mit möglichen Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen nicht allein. Dokumentieren Sie Auffälligkeiten sachlich, um Entwicklungen nachvollziehen und Maßnahmen im Team abstimmen zu können. Supervision oder kollegiale Fallberatung bieten zusätzliche Sicherheit und Unterstützung. Sie helfen, die eigene Haltung zu reflektieren und angemessen zu reagieren.
Wenn Sie sich selbst in der Situation überfordert fühlen, lassen Sie sich fachlich von Expert*innen beraten. Sie können sich bei Fällen von Rechtsextremismus an ein Beratungsteam der Mobilen Beratung wenden oder im Kontext religiöser Radikalisierung bei SALAM Sachsen-Anhalt anfragen. Die weiterführenden Anlaufstellen finden Sie am Ende.

5. Präventionsarbeit

Nutzen Sie präventive Angebote, die Jugendliche weniger empfänglich für radikalisierende Einflüsse machen. Wirksame Prävention setzt dort an, wo junge Menschen in ihrer Persönlichkeit gestärkt und ihnen positive Alternativen aufgezeigt werden. Fördern Sie das Selbstwertgefühl sowie die Entwicklung realistischer und motivierender Zukunftsperspektiven von Jugendlichen. Ergänzend dazu können Sie auf Angebote zu Demokratie, Vielfalt und Medienkompetenz zurückgreifen, um kritisches Denken zu schulen und ein Bewusstsein für manipulative Inhalte oder extremistische Narrative zu schaffen. Ebenso wichtig sind kulturelle, sportliche, kreative oder vergleichbare Gruppenaktivitäten, die Zugehörigkeit ermöglichen und soziale Kompetenzen fördern.

Weiterführende Anlaufstellen

Quellen und Informationsangebote

Stand: 16.12.2025 | Autor*innen: Stephan Matecki, Anna-Lisa Nikoleizig | V.i.S.d.P.: Olaf Schütte

Diese Handreichung wird finanziert durch das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Sachsen-Anhalt.

 

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